Indy2Go
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Betreff: Re: Der letzte Film
Die Spur des Fremden
Der nach eigener Aussage schlechteste, jedoch kommerziell erfolgreichste Film von Orson Welles. Aber er irrt sich ohnehin, denn dieser Film ist genial. Kein zweiter "Citizen Kane", aber zweifellos hervorragende Unterhaltung. Stilisch entfernt der Regisseur sich ein wenig von seinen Vorlieben für große Schärfentiefe und dem expressionistisch Angehauchten, sodass man eher das Gefühl hatte einen Alfred Hitchcock-Film zu sehen, doch das tat dem ganzen kaum einen Abbruch. Dennoch ist dies wohl der am ehesten nach Studio-"Richtlinien" produzierte, also in der Visualität gewöhnlichste Film von Orson Welles, was er selbst wohl auch an seiner Schöpfung kritisierte. Eigentlich ein Jammer, dass dieser Mann immer mit Veriss bestraft wurde, wenn er sich die notwendige künstlerische Freiheit nahm. Wenigstens erkennt man seine Filme heute als das an was sie tatsächlich sind; Meisterwerke. Nicht umsonst wählten ausgewählte Fachleute im Rahmen der britischen Zeitschrift "Sight & Sound" das Resultat seines Regie-Debüts, den oben bereits erwähnten "Citizen Kane", zum besten Film aller Zeiten und dessen Schöpfer zum besten Regisseur. Doch ich schweife ab. Zurück zu Welles' fünf Jahe später gedrehtem Spielfilm. Die idyllisch unschuldige Kleinstadt sowie die Hintergrundgeschichten der Figuren wirken fast wie aus einem David Lynch-Film entnommen. Sicherlich hat dieser sich bei seinen Werken auch hiervon inspirieren lassen. Dieser fälschliche Eindruck einer heilen Welt dient natürlich dazu, die bittere Wahrheit über den Lehrer Charles Rankin noch schrecklicher wirken zu lassen. Ein altbekannter Kniff des Regisseurs, welcher im Übrigen auch den Schurken darstellte. Dies gelingt ihm - wie immer - ausgezeichnet. Tatsächlich war Orson Welles als Schauspieler genauso gut wie als Regisseur. Besonders die finalen Szenen spielt er grandios. Der letzte Akt des Filmes ist wohl ohnehin das größte Highlight. Der scheinbar nette Dorflehrer, verheiratet mit der Tochter des Richters, von allen als der brutale Kriegsverbrecher enttarnt, welcher er tatsächlich war. Ein Mann der nichts mehr zu verlieren hat, sich von seiner Scheinidentität verabschiedet, doch letztlich von genau der alten Turmuhr aufgespießt wird, die er den ganzen Film über so leidenschaftlich reparierte. Das ist ganz großes Kino. Obwohl der Film - um langsam mal zum Ende zu kommen - in der Machart keine Innovationen setze, wie etwa die vierminütige Eröffnungssequenz von "Im Zeichen des Bösen", bei der die Protagonisten von der Kamera verfolgt wurden, um einen Schnitt zu vermeiden sowie die berühmte Spiegelkabinett-Szene in "Die Lady von Shanghai" oder im Prinzip der gesamte Film "Citizen Kane", der das Kino damals gänzlich auf den Kopf stellte, ist dies ein genialer Streifen, wie ich ihn im heutigen Kino vermisse. Ich vergebe 8,5 von 10 Möglichen Punkten.
Marc S.
Bismarck biss Marc, bis Marc Bismarck biss.
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