Aldridge
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Betreff: Re: Was lest ihr zur Zeit?
Kleines Plädoyer von SPON für die Science-Fiction. Fand ich nett, aber schade, dass das überhaupt notwendig ist:
Zitat:Gesellschaft der Zukunft
Lesen Sie Science-Fiction!
Science-Fiction hat einen miesen Ruf. Sie gilt als minderwertig, als Literatur für Eskapisten. Doch die wahren Eskapisten sind diejenigen, die sich vor dem Gedanken an die Zukunft drücken.
"Es trifft schon zu, dass die Science-Fiction-Werke, so erfolgreich sie auch sind, in der Literaturkritik nur ein dürftiges Echo finden. Natürlich ist das kein Zufall. Der wichtigste Grund mag sein, dass die unzweifelhaften Vorzüge dieser Prosa mit Kunst nichts zu tun haben." - Marcel Reich-Ranicki, 2007
Science-Fiction hat keinen guten Ruf, im Allgemeinen nicht, und unter Literaturkritikern erst recht nicht. Im oben zitierten Dialog mit "FAZ"-Lesern erklärte Marcel Reich-Ranicki auch noch, dass er "in seiner frühen Jugend" mal Jules Verne gelesen habe, später dann ein bisschen was von Stanislaw Lem, aber auch von dem nur die frühen Werke. Obwohl Lem ein "höchst gebildeter und intelligenter Mensch" gewesen sei "und überdies liebenswürdig und sehr sympathisch".
Die Reich-Ranicki eigene, posthum schon fast liebenswert wirkende Arroganz lässt sehr klar hervortreten, was andere aus der Branche wohl vorsichtiger formulieren würden: eine tiefe Verachtung gegenüber jener Literatur, die sich nicht mit der Gegenwart oder der Vergangenheit befasst, sondern mit der Zukunft. Ich persönlich fand diese Verachtung schon immer falsch. Heute halte ich sie für fahrlässig.
In den Literaturkanons, die über die Jahre für verpflichtend erklärt wurden, kommt Science-Fiction selten bis gar nicht vor. Nicht einmal George Orwell oder Aldous Huxley gehören zum Pflichtprogramm des gebildeten Menschen, glaubt man Kritikern und Literaturwissenschaftlern, die solche Listen erstellen.
Das Nachdenken von Gesellschaften über sich selbst
Vielen Literaturbegeisterten ist schon die Frage, wozu Literatur eigentlich genau dient, ein Affront. Nur sich selbst, ist die einfachste Antwort, oder der Suche des Menschen nach sich selbst, nach Sinn, Verständnis für das Menschsein und so weiter. Aber diente gute Literatur nicht auch schon immer dem Nachdenken von Gesellschaften über sich selbst? Ist der "Zauberberg" nicht auch ein sehr langer Essay über die Dialektik von Tradition und Moderne, Wissen und Gefühl? Ist der "Mann ohne Eigenschaften" nicht ein sehr langer Gedankengang über die damals moderne Gesellschaft, die darin auszufüllenden Rollen, das wissenschaftliche Menschenbild?
Die Arroganz der Literaturkritik gegenüber der Zukunftsliteratur war so lange akzeptabel, vielleicht sogar verständlich, wie Jules Verne und seine Abenteuergeschichten das Einzige waren, was das Genre zu bieten hatte. Aber schon mit Orwell, Huxley, Lem, Philipp K. Dick und anderen hätte man da vielleicht umdenken sollen. Auch wenn es damals vielleicht noch nicht so dringlich schien.
Stifter oder Orwell?
Meiner Wahrnehmung nach ist "1984" für das Nachdenken der Menschheit über sich selbst weit wichtiger als das Gesamtwerk von Adalbert Stifter oder das von Robert Walser. Die Letzteren aber sind selbstverständlich kanonisiert, das Erstere nicht. Der Science-Fiction-Autor Neal Stephenson hat mir einmal in einem Interview gesagt, klassische Literatur handle von Menschen, Science-Fiction aber von Ideen. Ich glaube, er hatte recht.
Und damit wären wir bei der Gegenwart. Man könnte ja meinen, dass Ideenliteratur in einer Zeit der exponentiellen Veränderung schlecht altert. Für manche Sci-Fi-Romane mag das zutreffen, für die besten aber nicht. William Gibsons "Neuromancer"-Trilogie ist heute noch ebenso visionär und lesenswert wie damals in den Achtzigern. Im Übrigen auch sprachlich grandios, auch wenn das Marcel Reich-Ranicki vermutlich anders sehen würde.
Warum Science-Fiction heute wichtig ist
Science-Fiction ist heute, anders als zu Jules Vernes Zeiten, so wichtig, weil alles so schnell geht. Die Menschheit verändert ihre eigene Lebenswelt in so atemberaubendem Tempo, dass die Visionen von gestern sehr schnell zur Gegenwart von heute werden können. Wenn unsere Gesellschaften aber darüber nachdenken sollen, in welche Welt all die rasante Entwicklung führen wird und sollte - ob in Sachen Künstliche Intelligenz, in Sachen Gentechnik, in der Robotik oder angesichts der Folgen des Klimawandels -, dann wird ihnen der Blick zurück und nach innen dabei nicht helfen. Sie werden sich zum Nachdenken auf Autoren beziehen müssen, die sich das Nachdenken über Morgen und Übermorgen zum Beruf gemacht haben.
Früher galt das Lesen von Science-Fiction als eskapistisch. Heute ist es Eskapismus, keine Science-Fiction zu lesen.
Paolo Bacigalupis "Wind-up Girl", das auf Deutsch den dämlichen Titel "Biokrieg" bekommen hat, wird dem Leser ein tieferes emotionales Verständnis davon vermitteln, was der Menschheit angesichts des Klimawandelns drohen könnte, als alle IPCC-Berichte und Konferenzen zusammen. Neal Stephensons "Diamond Age", in dem eine in Miniaturstaaten aufgeteilte Welt mit 3D-Druckern in jedem Haushalt und lernende digitale Lehrbücher die Hauptrollen spielen, ist 22 Jahre nach seinem Erscheinen immer noch eine Zukunftsvision, über die es sich nachzudenken lohnt. Und die Space Opera von Iain M. Banks' "Culture"-Serie, in der wohlmeinende künstliche Intelligenzen (KI) einer entrückten Menschheit ein Leben im Paradies ermöglichen, sollte jeder kennen, der die KI-Debatte der Gegenwart und ihre Antreiber verstehen will. Sowohl Mark Zuckerberg als auch Tesla-Chef Elon Musk sind Fans.
In einem langen Gespräch, das ich mit Jürgen Schmidhuber führen durfte, einem der Pioniere der neuronalen Netze, die jetzt die KI revolutionieren, kamen wir überraschend schnell auf das Thema Science-Fiction. Es stellte sich heraus, dass Schmidhuber alles gelesen hatte, was ich so kannte, und noch viel mehr.
Natürlich sind Informatiker und Tech-Unternehmer keine überlegenen Ratgeber in Sachen Lesestoff. Aber es könnte möglicherweise doch eine Rolle spielen für die Zukunft der Menschheit, welche Bücher diejenigen lesen, die diese Zukunft gerade gestalten.
Auch wenn Marcel Reich-Ranicki das wohl wütend zurückweisen würde: In einer Zeit, in der sich die Zukunft schneller in Gegenwart verwandelt als je zuvor, lohnt es mehr denn je, auch über das Morgen nachzudenken. Nicht nur über das Gestern.
Quelle: http://www.spiegel.de/...76316.html
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