Komplettes Thema anzeigen 17.06.2025, 13:34
Indy2Go Abwesend
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Betreff: Re: Der letzte Film
Keoma

Weiß immer noch nicht so recht, ob ich den Film als missverstandenes Meisterwerk oder als Guilty Pleasure einstufen soll – in jedem Fall aber als einen meiner Lieblingsfilme. Enzo G. Castellari versuchte sich 1976 noch einmal an einer italienischen Western-Produktion, obwohl das Genre eigentlich schon wieder tot war und Gialli sowie Poliziotteschi das Kino dominierten. Anders als die späten Italowestern, die das Genre zunehmend ins Komödiantische verschoben (darunter auch Castellaris eigener Zwiebel Jack räumt auf), verfolgt Keoma einen deutlich ernsteren Ansatz – so ernst und bedeutungsschwanger, dass es stellenweise fast schon unfreiwillig komisch wirkt.

Der aufdringliche Score trägt seinen Teil dazu bei, auch wenn ich den Ansatz eines expositorischen Soundtracks eigentlich ziemlich spannend finde. Irgendwie mag ich sogar den Kontrast der beiden Stimmen und den rohen, unsauberen Gesang – das passt zur Atmosphäre des Films. Ein bisschen mehr Zurückhaltung hätte dem Ganzen aber sicher gutgetan. Subtilität ist generell nicht das erste Wort, das einem in den Sinn kommt, wenn Castellari mit so ziemlich allen filmischen Kunstgriffen und Erzähltechniken um sich wirft, die irgendwann, irgendwo schon mal irgendjemand verwendet hat: Peckinpahs Slow-Motion, Bergmans Rückblenden, in denen Figuren durch ihre eigene Vergangenheit wandeln, Kurosawas Reißschwenks oder Welles' Plansequenzen – hier wird zitiert, kopiert und teils (unfreiwillig?) persifliert. Der Film wirkt wie eine einzige Liebeserklärung ans Kino.

Und genau das macht für mich seinen ganz besonderen Reiz aus – man merkt einfach in jeder Einstellung, dass hier jemand am Werk war, der liebt, was er tut. Das Drehbuch von Luigi Montefiori (Genre-Fans auch als Schauspieler George Eastman bekannt) wurde von Castellari noch am Set Tag für Tag umgeschrieben. Weil Castellari kaum Englisch sprach, mussten John Loffredo und andere Darsteller ihre Dialoge selbst übersetzen. Trotz dieser chaotischen Bedingungen ist ein erstaunlich runder Plot entstanden, der zwar nicht so genial ist, wie er es gerne wäre, aber dessen zirkuläre Struktur ich sehr mag. Was der Hauptfigur als Kind widerfährt, wiederholt sich später und setzt die eigentliche Handlung in Gang – eine schöne narrative Klammer. Der Film ist generell reich an Symbolik und steckt voller biblischer und shakespearescher Anspielungen und Metaphern. Vieles ist gut durchdacht, aber eben auch plakativ, mit Holzhammermethode. Castellari war nun mal Action-Regisseur, kein Auteur.

Für mich ist "Keoma" ein Film, der vielleicht nur haarscharf an der Karikatur vorbeischrammt, aber dabei so voll ist von Liebe für das Medium, dass auch ich ihn einfach nur lieben kann. 10/10
Marc S.
Bismarck biss Marc, bis Marc Bismarck biss.