Komplettes Thema anzeigen 30.08.2020, 13:51
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Betreff: Re: Der letzte Film
Berberian Sound Studio

Der britische Toningenieur Gilderoy wird angeheuert, um im titelgebenden Berberian Sound Studio in Italien, einen sogenannten "Giallo" zu vertonen; ein vor allem in den 60er und 70er Jahren populäres Subgenre des Thrillers/Horrorfilms, das unter anderem auch den Weg für den amerikanischen Slasher bereitet hat.

Neben den sprachlichen Barrieren hat der schüchterne Gilderoy als höflicher britischer Gentleman auch seine Schwierigkeiten, sich gegen die lauten italienischen Künstler-Egos zu behaupten. Vor allem aber belasten die ungeahnten Gewaltexzesse des Regisseurs Satini den Toningenieur, der normalerweise Kinderfilme und Naturdokumentationen vertont.

Messerstiche werden an Kohlköpfen simuliert, um zerplatzende Köpfe zu vertonen, werden Kürbisse auf den Boden geworfen und für Genitalverstümmelungen mit heißen Eisen muss eine Bratpfanne mit brutzelndem Öl Abhilfe schaffen.

Doch am schlimmsten sind die Schreie. Tag für Tag muss Gilderoy Entsetzensschreie von verängstigten Frauen aufnehmen, denn in Italien wurde zu dieser Zeit ohne Ton gedreht oder der am Set aufgezeichnete Ton zumindest nicht genutzt. Die Filme mussten im Studio also auch komplett synchronisiert werden.

Gilderoy scheint sich beinahe wie ein Komplize zu fühlen, der eine Mitschuld an den Morden und Gewaltverbrechen trägt, wenn er zu den verstörenden Bildern auf unschuldiges Gemüse einsticht. Seine Arbeit an dem kommenden Skandalfilm beginnt ihn zunehmends auch in seine Träume zu begleiten, bis Fiktion und Realität komplett verschwimmen, was sich dann letztlich in Form eines Lynch'schen Mindbenders auch auf den Zuschauer überträgt.

Interessant ist, dass der Zuschauer in "Berberian Sound Studio" die offenkundig skandalträchtigen Bilder des zu vertonendes Giallos niemals zu Gesicht bekommt. Ein genialer Schachzug, da die Ausformung dieser - anhand der erzeugten Geräusche und Schilderungen der Figuren - der Fantasie des Zuschauers überlassen wird.

Daniel Kothenschulte fasste dies in der Frankfurter Rundschau perfekt zusammen: "Auf eine so stilvoll-gruselige Art hat man im Kino noch niemals nichts gesehen."

Es ist jedoch ein Aspekt, der von der Kritik anscheinend komplett übergangen wurde, der den Film für mich erst zu einem echten Glanzstück macht: Regisseur Peter Strickland gewährt dem Zuschauer hier nicht nur hochinteressante Einblicke in einen wichtigen Prozess des Filmemachens, dem oft eine viel zu geringe Relevanz beigemessen wird, er äußert über "Berberian Sound Studio" auch scharfzüngige Kritik an der Industrie:

Der fiktive Regisseur Satini rechtfertigt die Gewaltexzesse in seinem Film mit Authentizität, er beharrt darauf, dass in der Geschichte tatsächlich Frauen so schrecklich zugerichtet und ermordet wurden. Doch dass die Gewalt vor allem dem Selbstzweck dient und sehr viel mehr über die abstoßenden Gedanken eines sexistischen "Künstler"-Egos sagt, als über die Menschheitsgeschichte, wird spätestens dann deutlich, wenn eine abtrünnige Darstellerin darauf hinweist, dass es Satinis Drehbuch zwar verlangte, dass ein Priester die Körper der Hexen nach dem Teufelsmal untersucht. Dass er aber nur auf den Brüsten nachsieht, das sei doch sehr merkwürdig.

Im besten Fall bringt uns "Berberian Sound Studio" dazu, sowohl stilisierte Gewalt, als auch sexistische Frauenfiguren, die lediglich auf verquere Männerfantasien reduziert werden, zu hinterfragen und mehr noch:

Der Film ist ein wertvoller Beitrag zur #MeToo-Debatte und einmal mehr Beweis dafür, dass die Filmwelt schon lange bevor sie zu einer öffentlichen Debatte wurde, von der Problematik wusste. Es wollte nur niemand zuhören. Diese klare Message hebt für mich daher auch auf, dass hier vielleicht unfairerweise ein besonders negatives Licht auf speziell die italienische Filmindustrie geworfen wird.

PS: Der Film ist auf Amazon Prime zweimal geloggt; einmal als Original mit Untertiteln, einmal in einer vermeintlich synchronisierten, deutschen Fassung. Tatsächlich sind beide Fassungen im O-Ton. Eine Synchro gibt es (zumindest Stand jetzt) noch nicht und würde wohl auch nur bedingt Sinn ergeben, da gefühlsmäßig mehr Italienisch als (sehr leicht verständliches) Englisch gesprochen wird.
Marc S.
Bismarck biss Marc, bis Marc Bismarck biss.