In der Vergangenheit hatte ich immer dann, wenn Christopher Nolan zu seinen berühmt-berüchtigten Verwirrspielchen ausgeholt hat und ich nicht mehr so ganz dahinter gestiegen bin, das Gefühl, einfach der dumme Zuschauer zu sein, der gar nicht erst begreifen kann, was in Nolans genialem Kopf vor sich geht. Bei "Tenet" war das anders. "Tenet" gab mir viel mehr das Gefühl, Christopher Nolan spekuliere darauf, dass ich nur der dumme Zuschauer bin, der sich gar nicht mehr traut, seine Gedanken zu hinterfragen.
Dabei ist das Konzept eigentlich viel simpler, als es zunächst scheint. Genau wie schon "Backwards", eine über 30 Jahre alte Episode der britischen Sci-Fi-Sitcom "Red Dwarf" stellt sich auch "Tenet" zunächst einmal eine grundlegende Frage: Was wäre, wenn die Protagonisten eine Welt betreten, in der alles um sie herum rückwärts geschieht? Rückwärts, wie ein zurückspulender Film.
Die besagte "Red Dwarf"-Folge erklärt dieses Konzept mit einer Reise in ein Paralleluniversum, in dem die Zeit eben entgegengesetzt zu unserem Universum vergeht. Nolans jüngster Streich dagegen versucht diese Idee in unsere Welt zu integrieren. Es ist nicht die Welt, die sich anders herum dreht, es sind Objekte und sogar Lebensformen, die "invertiert" werden. Das heißt ihre Entropie wird umgekehrt; so wird eine invertierte Kugel eben nicht aus der Pistole in die Wand geschossen, sondern aus der Wand in die Pistole.
Der "Doctor Who"-Fan in mir versuchte zuerst, dieses Phänomen mit der üblichen Logik von Zeitreise-Geschichten zu erklären: Wie kommt die Kugel in die Wand? Muss sie nicht vorher hinein geschossen worden sein?
Tatsächlich nicht. Denn mit Zeitreisen hat "Tenet" überhaupt nichts am Hut. Es ist viel simpler als das: Der "Lebenszyklus" der Kugel verläuft einfach rückwärts. Die Kugel war in der Wand, noch bevor sie in der Waffe war. Die Wirkung löst eine Ursache aus.
Viel leichter ist es zu verstehen, wenn nicht die Figuren mit invertierten Gegenständen interagieren, sondern die Figuren selbst invertiert werden: Aus ihrer Sicht bewegen sie sich dann vorwärts, während alles um sie herum rückwärts geschieht.
Spoiler:
Dieses Szenario nutzt Nolan als Vehikel für eine Schnitzeljagd, ein globales Katz-und-Maus-Spiel, das im Kern eigentlich nur ein Ziel kennt: Den Plan eines russischen Oligarchen vereiteln, der unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt ist und die Invertierungstechnologie nutzen will, um die Welt mit sich in den Tod zu reißen.
Natürlich reizt Nolan die Möglichkeiten seiner Welt voll aus, um alle Facetten dieser Prämisse aufzuzeigen und ihre Möglichkeiten auszuspielen. Und das mit einem produktionstechnischen Aufwand, der seinesgleichen sucht. Doch genau darin liegt für mich auch das große Problem des Films.
Ohne all den intellektuellen Bombast wäre die Handlung irgendetwas zwischen "Ocean's Eleven", "Mission Impossible" und einem eher mittelprächtigem Bond. Was den Film darüber hinaus befördert ist das, was ihn in diesem Zuge auch gleich wieder herunter zerrt: Sein eindrucksvolles Konzept - und all die ellenlangen Erklärungen und teils vergeblichen Versuche, den denkbar unentwirrbarsten Mindfuck daraus zu beziehen.
Und letztlich schafft der Film es dann doch nicht, die Antworten zu geben, die er zu geben verspricht. Wenn der geistige Zenit überschritten ist, müssen einfache Lösungen her, die dann plötzlich keiner ausführlichen Erklärung mehr bedürfen. Wenn die Handlung es verlangt, dass die Figuren sich der Gefahr einer Invertierung aussetzen, dann wird eben kurzerhand eine Figur durch eine invertierte Kugel verletzt, die wegen einer ominösen Strahlung nicht geheilt werden kann, wenn sie nicht selbst invertiert ist.
Die Figuren existieren ohnehin lediglich um ihre Aufgaben zu erfüllen. Über diese Oberflächlichkeit hinaus gelangen sie höchstens dann, wenn es der Handlung nach Drama dürstet. Und daraus resultierte zumindest für mich letztlich das Problem, dass ich in all der Tragik nicht mehr erkennen kann, als den reinen Selbstzweck.
Das geht sogar so weit, dass die Figuren nicht einmal mehr wirklich als Brücke für den Zuschauer fungieren. Sie staunen nicht, als ihr lineares Verständnis der Zeit komplett über den Haufen geworfen wird; es ist einfach so. Schließlich ist der Zeitplan eng und die Liste der Wendepunkte lang. Das wirkte auf mich fast schon so, als wolle man den Zuschauer gar nicht mehr ins Geschehen involvieren, sondern viel mehr die eigene Cleverness zelebrieren.
Die Dialoge sind zwar gewohnt gut geschrieben, sogar überraschend humorvoll, verlieren sich aber gerne in Steilvorlagen, die einer Figur dann nur die Gelegenheit geben sollen, möglichst cool auf das Gesagte zu kontern.
Eine gesellschaftskritische Komponente wird, so scheint es fast, nur etabliert, um sie direkt wieder fallen zu lassen. Dabei ist die Frage, ob wir den Tod verdienen - aus der Sicht von künftigen Generationen, die mit den direkten Folgen unseres Daseins leben müssen - der mit unter interessanteste Ansatz des gesamten Filmes. Ja, Ansatz. Nicht mehr.
Man könnte sagen "Tenet" sei ein typischer Nolan-Film. So typisch, dass alle Stärken und Schwächen vielleicht klarer erkennbar sind, als überall sonst: Auf der einen Seite haben wir sein Händchen für originelle Stoffe, für verschachtelte Handlungen, die den Zuschauer fordern und überfordern, für High-Concept-Blockbuster, die auf audiovisueller Ebene überwältigen und ein intensives Kinoerlebnis garantieren. Aber auf der anderen Seite gibt es da eben auch die blassen Figuren, der fehlende emotionale Unterbau, die ellenlangen Expositionsdialoge und die konträr dazu bestehende Vagheit an genau den Punkten, an denen ich mir Konkretheit gewünscht hätte.