Komplettes Thema anzeigen 12.03.2017, 12:29
Aldridge Abwesend
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Betreff: Re: Was lest ihr zur Zeit?
Ich pack´s mal hier rein...

Robert Harris zum 25. Jubiläum seines Romans Vaterland: https://www.welt.de/...l-aus.html

Auch wenn er geflissentlich verschweigt, dass schon vor ihm mehrere Leute auf die Idee gekommen sind - allen voran Dick mit Man in the High Castle - so ist das doch ganz interessant zu lesen und sind die hergestellten Parallelen zur heutigen Gesellschaft auch nicht ganz von der Hand zu weisen.

Da wir mehrere aktive Autoren im Forum haben, fand ich die Beschreibung der Autorentätigkeit, also des fiktiven Schreibens, ganz nett:

Zitat:
[...]Ich schrieb die ersten paar Seiten an einem Samstagnachmittag im Jahr 1989 in einem Zustand verzückter Benommenheit, der von der Erkenntnis genährt wurde, dass ich mir buchstäblich alles ausdenken und zu Papier bringen konnte – dass während eines Unwetters eine einbeinige Leiche an einem Seeufer angeschwemmt würde oder dass eine Marschkapelle quer über einen Platz defilierte, während mein misstrauischer Held das durch die regennassen Autoscheiben beobachtete. Es war mir, als wäre ein bislang völlig brachliegender Teil meines Verstandes zum ersten Mal angeschaltet worden.

Aufgeregt hieb ich ein paar Wochen lang in die Tasten, bis ich auf einmal zu einem Stillstand gelangte. Ich hatte da eine Gruppe Figuren in einen Raum gestellt, aber absolut keine Ahnung, was sie da sollten. Sie offenbar auch nicht. Sie saßen einfach nur stumm herum, von keiner ging auch nur der leiseste Anflug von Inspiration aus, und alle schienen auf meine Anweisung zu warten, wie es jetzt weitergehe. Ich war verwirrt: Sollten Figuren nicht „ein Eigenleben entwickeln“?

Geschlagen legte ich das Buch für mehr als ein Jahr beiseite. In jenem November fiel die Berliner Mauer. Seltsamerweise betrachtete ich das als den letzten Gnadenstoß für meinen aufgegebenen Roman. Wen würde es schon groß interessieren, von einem fiktionalen vereinten Deutschland zu lesen, dachte ich bedrückt, wenn man einfach nur den Fernseher anmachen musste und sich das echte ansehen konnte?

Im Nachhinein erkenne ich darin natürlich den klassischen Fall von schrecklichem, irrationalem Pessimismus, der die meisten Schriftsteller an irgendeinem Punkt heimsucht. Wenn es nämlich einen Faktor gab, der meinem Hirngespinst eines vereinten Deutschlands plötzlich die nötige Schärfe verlieh, dann waren es die Nachrichten, dass genau ein derartiges Gebilde wie aus heiterem Himmel inmitten Europas wiederkehrte.

Anfang 1991 nahm ich die Arbeit an „Vaterland“ wieder auf, zunächst ohne viel Leidenschaft. Soweit es mich betraf, wollte ich nur einen letzten Versuch wagen. Aber dann tat ich schließlich das, was ich schon von Anbeginn an hätte tun sollen: Ich stellte mir die Romanhandlung möglichst bis zum Ende vor.

Ein Roman war schließlich nichts anderes, begriff ich endlich, als die Nacherzählung von etwas, was bereits passiert ist – und nicht ein freies Spiel von Folgen, die man im weiteren Verlauf nach Belieben erfand. (Selbstverständlich kann man einen Roman auch improvisieren, wie man auch aus dem Stegreif einen Witz zu erzählen anfangen kann, ohne sich im Voraus die Pointe ausgedacht zu haben, aber das ist ein riskantes Unterfangen ohne große Aussicht, das Publikum zu fesseln.)[...]