Komplettes Thema anzeigen 12.11.2011, 11:43
Jean Royale Abwesend
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Betreff: Re: Uropas Kriegserinnerungen
So, zwischendurch noch ein paar weitere Anekdoten. Mich hat die Geschichte tatsächlich gepackt, denn es ist ziemlich selten, auf solch ein geschlossenes Werk zu stoßen ... das ist wie der Fund von etwa - na ja, einer Bundeslade oder so. Zwinkernder Smiley Und es ist und bleibt ja mein Uropa, der das alles erlebt hat, mir jedoch völlig fremd ist, weil ich ihn nur noch als Kind kennengelernt habe, aber so gar keine Beziehung zu ihm hatte. Sehr strange, das alles.

Im Lazarett geht es Robert Jäger ganz gut, nur wird es schnell langweilig (denn so richtig krank ist er ja auch wieder nicht - oder doch? Hm.) und daher macht er sich nützlich:

"Nach 14 Tage war mir doch daß legen im Bette leid und sofort nach der Visitte stand ich auf und tat dem Wärter schon kleine Handdienste. Doch ich fühlte mich auch körperlich sehr schwach und tat es nur ohne Wissen des Arztes, aber es machte mit Freude für die, welche sich gar nicht bewegen durften und konnten, etwas behilflich zu sein. Durch diese Bewegung bekam man auch die Kräfte wieder solangsam zurück. So verging dann ein Tag nach dem andern und die Zeit vertrieb man sich viel durch lesen und schreiben. Dann bekam ich auch vom Arzt die Erlaubnis, etwas aufzustehen. Nun konnte ich mal recht denen, die Hilfe bedürftig waren, auf [19r] unserem Zimmer behilflich sein. Auch bei dem Wärter, welcher sosehr mit Arbeit belastet war, war dieses gut angebracht. Auch fand ich schnell bei den Schwestern durch mein williges Arbeiten ein gutes ansehen. Aber aus diesem Grunde hatte ich keinen Trieb zur Arbeit an den kranken, sondern mein Herz schlug für die Mittbrüder, mitt denen man doch Freud und Leid [hat] teilen und tragen müssen. Aber es solte doch nicht lange dauern, da stelte mir die Schwester, welche die Stationsküche hatte, die Frage, ob ich Ihr in der Küche helfen wolte, daß Essen verteilen; auch dieser Forderung folgte ich und sagte ja dazu. Sofort holte sich die Schwester Erlaubnis vom Arzt und am anderen Tage half ich Ihr schon in der Küche. Wie ich schon vorher erwähnte, war der ganze Ort Buch als Lazarett eingerichtet und in einer großen Hauptküche wurde für alle 12-15 Lazarette gekocht und [das Essen] durch ein bestimmtes Kommando [abgeholt und] zu den einzelnen Stationen gebracht. Da muste ich dann helfen, es den einzelnen Kranken verteilen. Es war im anfang [de]s Jahres 1918, woh überall die Lebensmittel knapp waren, so war auch hier schmalhans Küchenmeister und man hörte oft murren [20v] und klagen. Aber man konnte nicht mehr geben als da war, so wurden die letzten Reste aufgezehrt. Es wurde mir und meinem Kameraden, welcher auch mit in der Küche war, [erlaubt,] uns richtig satt zu essen, weil wir ja arbeiten musten."

Er sitzt also an der Quelle und ist gut versorgt, vor allem auch deshalb, weil er von zu Hause häufig "Fresspakete" bekommt:

"Aber meine Lieben in der Heimat versäumten es auch nicht, mir regelmäßig mein Paket zuschicken. So muste ich oft denken, es wäre der liebe zuviel. Auch in den späteren Jahren muste ich in dankbarer weise an die mir erwiesene Liebe zurück denken. Oft hatt mich ein Paket in recht hungrigen Zustande angetroffen und [ich] wurde dann wieder sorecht aufgefrischt. So denke ich noch gerade an die Zeit an der Front, als mal der Hunger sorecht groß war und gerade ein Pferd unserer Kompani[e] krank war und am Boden lag, in den lezten zügen noch durch eine Kugel in den Kopf geschossen wurde und so zum verenden gebracht wurde. Wir vielen sofort als [wie] die hungrigen Wölfe drüber her und jeder schnitt sich ein passendes Stück ab. Jezt wolten wir [es] uns zu zwei Mann im Kochgeschirr voll [wohl] ab kochen, an braten konnte man nicht denken. Nun wurde auch in dem augenblick Post verteilt und für mich [20r] war ein Paketchen von meinen Lieben aus der Heimat dabei, schnell öffnete ich es und es war Butter drin. Ich glaube heute noch, daß mir aus dankbarkeit die Tränen des [die] Backe runter gelaufen sind. Nun gab es nicht nur Pferdefleisch, sondern Pferdebraten."

Es ist berührend, solche Passagen zu lesen, denn mein Uropa war ein anscheinend sehr ehrlicher, einfacher Mann, der seine Pflicht erfüllte und auch als Soldat noch stets versuchte, seine Christenpflichten einzuhalten. Wie er dies mit dem Krieg vereinbaren konnte, ist mir persönlich zwar nicht begreiflich, aber das liegt an den veränderten Zeiten. Für ihn war beides miteinander vereinbar; er sah darin keinen Widerspruch. So anders können Vorstellungen und Überzeugungen sein, und ich werde mich hüten, das zu verurteilen. Er war ein Kind seiner Zeit und hat entsprechend gehandelt und gedacht, so wie wir es heute hier für uns tun. Ich war auch zutiefst beeindruckt von folgender Episode:

"Aber hier in der Küche im Lazarett war ich nicht auf die Pakete angewiesen. So war es mir eine besonders große Freude, die Pakete, die für mich ankamen, meinem Bettnebenmann zu schenken. Es war schon ein älterer Mann, seine familie lebte in dresten [Dresden] in ärmlicher Verhältnissen, auch war seine Frau immer leident. So war es für mich die größte Freude, wenn wir zusammen meine Pakete öffnetten, dann wieder frisch einpacken und seiner Familie zuschicken konnten. Auch für Ihn sorgte ich von meinem Essen, so viel er brauchen konnte. Er war von Beruf Anstreicher und Maler und hatte dadurch auch Bleivergiftung im Magen. Es ist eine böse und zerende Krankheit, aber ich darf sagen, ich habe Ihm gut die Zeit durchgeholfen, seine oft strahlende[n] Augen bezeugten mir seine Dankbarkeit."

Und dann kommt Post von zu Hause: "So kam dann plötzlich ein Urlaubsgesuch an. [21v] Frau Rau [in] Heischeid, bei der ich ja vor meiner Soldatenzeit arbeitete, hatte plötzlich einen Unfall gehabt. Da erkundigt[e] sich Bürgermeister Schüle aus Denklingen, mit dem sie einen intimen Verkehr hatten, nach meiner Adresse, und machte ein Urlaubsgesuch. Das Krankenhaus bewilligte 14 Tage Urlaub. Ich konnte also sofort meinen ausweiß abholen und abfahren."

Vitamin B war damals schon ausschlaggebend, wenn man auf dem Land was werden wollte ... Grinsender Smiley Und Uropa - auch wenn er das hier nicht schreibt - missbilligte solche "Beziehungen", denn er selber bliebt offenbar "sauber", obwohl seit Unzeiten gerade der Kommiss nicht unbedingt als Knabengesangsverein bekannt ist. Als er vom Urlaub zurückkommt, geschieht ihm folgendes:

"Ich kam Abends um 10 Uhr am Leerter Bahnhof an, ging zum Fahrplan an der Wand, um mich zu orientieren, wann der nächste Vorortzug abfuhr, da kam eine junge Dame auf mich zu und sprach mich an, ich wolte doch noch nicht weiterfahren, es wäre noch so früh. Ich ließ mich aber nicht bereden, sondern gab Ihr die rechte Antwort. Vieleigt hatte Sie Freude an meinen Paketen oder sonst böse absichten. Denn die Großstädte waren schlecht."

Warum schreibt er diese kleine Anekdote auf? Wenn er mitgegangen wäre - niemand hätte je was erfahren, wenn er es nicht gerade aufgeschrieben hätte. Aber Robert Jäger thematisiert die Privatprostitution indirekt (so sicher ist er sich dahingehend wohl auch nicht) und verurteilt sie mit einem Rundumschlag gegen "die Großstädte". Daher glaube ich, dass es echte Empörung ist, denn kurz darauf passiert im Krankenhaus folgendes:

"Als ich dann in der Küche war und einen Augenblick mit der Schwester allein war, erzählte Sie mir, das[s] der andere, welcher auch mit in der Küche half, nicht ehrlig war. Während mens [meines] Urlaub[s] hatte man Ihn bemerkt, als er Stadt Urlaub hatte, wie er 5-6 Brode mit in die Stadt schleppen wolte. Er war nähmlig ein Berliner. Er wurde nun noch an dem selben Tage entlassen. Nun ging es hier auch seinen alten alten gang weiter. Aber auch die Schwestern waren nicht alle ehrlig. So wurde bei der Nachtschwester festgestelt, daß diese Ihrem lieblings Soldat, ein[em] Feldwebel, des Nachts Kartoffel [22r] schnorte [klaute] und sonst gutes vertigmachte; dieser lag auf einem Zimmer, da ließ sich schon was machen und doch schlug es fehl. Bisher hatte diese des Nachts den Schlüssel der Küche, doch von jezt ab nicht mehr und ich bekam ihn von der Oberschwester in verwahr. Auch da gab es ein anders [änderte es sich] mit der Liebelei [der beiden]."

So, im Februar 1918 wird er entlassen und erlebt noch ein paar Dinge in Berlin. Aber davon später.
Lukas
"Das sind nicht die Jahre, Schätzchen, das ist Materialverschleiß." Lachender Smiley